Bei der Revolutionale 2023 richtete Oleksandra Matviichuk einen eindringlichen Appell an die Zivilgesellschaft. Sie ist eine ukrainischen Anwältin, Menschenrechtsverteidigerin, Frauenaktivistin und führenden Vertreterin der Zivilgesellschaft aus Kyiv. Oleksandra ist die Leiterin des Center for Civil Liberties und die erste ukrainische Friedensnobelpreisträgerin (2022). Die Financial Times hat sie zu einer der 25 einflussreichsten Frauen der Welt gekürt.

[Zum englischsprachigen Originaltext]

“Es gibt eine Gemeinsamkeit von Staaten, die ein totalitäres System erlebt haben: selbst wenn ihre Einwohnerzahl groß ist, haben sie nur wenige Bürger*innen. Ein Leben in Angst verursacht eine bestimmte Denkweise. Sie lautet in etwa „Ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch, von mir hängt nichts ab, und außerdem können wir ohnehin nichts entscheiden.“ So funktioniert das „Syndrom der erlernten Hilflosigkeit.“ Man verzichtet freiwillig auf die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und lässt sich zu einem Kontrollobjekt machen, „einem einfachen Rädchen im Getriebe“, wie es in der sowjetischen Propaganda hieß. Menschen werden nicht automatisch zu Bürger*innen, wenn sie einen Pass erhalten, sondern erst dann, wenn sie den Bereich, für den sie sich verantwortlich fühlen, über sich selbst und ihre Familie hinaus auszudehnen.

In Ländern, die sich in gesellschaftlichen Umbruchphasen befinden, lassen sich die Konsequenzen dessen beobachten. Eine aktive, organisierte Minderheit bestimmt die Richtung, in die sich das Land entwickelt. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung hängt jedoch von der passiven Mehrheit ab. Darum reicht es nicht aus, die richtigen Gesetze zu verabschieden und formelle Institutionen zu schaffen. Gesellschaftliche Konventionen werden trotzdem stärker sein.

Der Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verlangt eine gewisse Art zu reflektieren und die Welt wahrzunehmen, die bestimmt, wie eine Person denkt und handelt. Es reicht darum nicht aus, zu wissen oder gesagt zu bekommen, dass diese Werte wichtig sind. Es sind die Taten, die die Überzeugungen prägen. Darum ist es wichtig, dass Demokratie täglich praktiziert wird, und zwar nicht nur von den Bürger*innen, deren Länder sich im Umbruch befinden.

Das Problem unserer Region – Europas – sind nicht nur die autoritären Staaten, in denen der Raum für Freiheit auf die Größe einer Gefängniszelle geschrumpft ist. Das Problem ist auch, dass selbst in gefestigten Demokratien jene Kräfte stärker werden, die Zweifel an den Grundsätzen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte säen. Die Gründe dafür sind simpel.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, wurde von nachfolgenden Generationen abgelöst, die die Werte der Demokratie von ihren Eltern geerbt haben. Diese begannen ihre Rechte und Freiheiten für selbstverständlich zu halten. Nun treten die Menschen immer weniger als Vertreter*innen dieser Werte auf und immer mehr als deren Konsument*innen. Freiheit bedeutet für sie, Käse im Supermarkt auszuwählen. Folglich sind sie bereit, Freiheit gegen wirtschaftliche Vorteile, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen.

Werte verlieren aber ihren Sinn, wenn die Zuständigkeit für ihren Schutz den Menschenrechtsaktivist*innen und Diplomat*innen überlassen wird. Ich habe mir deshalb vor einigen Jahren vorgenommen, es als eine meiner vorrangigen Aufgaben zu betrachten, niedrigschwellig Angebote für gewöhnliche Menschen zu schaffen, über die sie sich in der Menschenrechtsarbeit einbringen können. Damals erlebte die Ukraine mehrere große Umwälzungen. Ich möchte unsere Erfahrungen teilen und Ihnen diese Geschichten erzählen.

Geschichte eins. Euromaidan

Vor neun Jahren ereignete sich in der Ukraine die Revolution der Würde. Millionen von Menschen erhoben sich mutig gegen das autoritäre und korrupte Regime. Sie gingen im ganzen Land auf die Straße und forderten von der Regierung, sich weiter in Richtung des europäischen Zivilisationsraums zu bewegen. Sie kämpften um die Möglichkeit, einen Staat aufzubauen, der die Rechte aller Menschen schützt, in dem die Regierung Verantwortung für ihr Handeln übernehmen muss, in dem die Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht mit Gewalt gegen friedlich demonstrierende Studierende vorgeht. Sie haben den höchstmöglichen Preis dafür bezahlt. Die Polizei, die damals noch unter ihrer postsowjetischen Bezeichnung „Milicjia“ firmierte, erschoss über einhundert friedlich Demonstrierende auf dem zentralen Platz von Kyiv – dem Maidan Nesaleschnosti. Die Menschen starben unter den Flaggen der Ukraine und der Europäischen Union.

Damals koordinierte ich die Initiative Euromaidan SOS, in der sich mehrere tausend Menschen zusammengeschlossen hatten, um von Repressionen betroffenen Protestierenden im ganzen Land Rechtsbeistand und weitere Unterstützung zu leisten. In all diesen Monaten haben wir rund um die Uhr gearbeitet. Hunderte und aberhunderte Fälle von Verprügelten, Verhafteten, Gefolterten und wegen erfundener Anschuldigungen Verfolgter sind durch unsere Hände gegangen.

Damals waren wir allein gegen den gesamten Staatsapparat, der uns vernichten wollte. Physisch. Tituschki – vom Regime bezahlte Schläger – kooperierten mit der Milicjia, die Milicjia koordinierte ihre Aktionen mit der Staatsanwaltschaft; der Geheimdienst, die Gerichte, die Regierung und die überwiegende Mehrheit im Parlament – alle waren gegen uns. Unter diesen Bedingungen lag es nahe, aufzugeben und zu sagen, man kann ja doch nichts tun. Doch unsere Anwält*innen und unsere Freiwilligen kämpften aufrichtig und engagiert für Jede und Jeden, mit allen Verfahrensmitteln, so als ob wir in einem Rechtsstaat gelebt hätten. Schlussendlich führte das zu einem unverhofften Resultat. Wir hatten auf der Ebene des Rechts begonnen, aber eine Art symbolische Ebene erreicht, auf der Ideen und eine Bedeutung geschaffen wurden. Allen auf dem Maidan war klar, dass niemand davor gefeit war, geschlagen, entführt oder inhaftiert, ja sogar getötet werden zu können, aber wir wussten, dass es Menschen gibt, die für uns kämpfen würden, die uns und unsere Familien unter keinen Umständen im Stich lassen würden. Das gab uns Kraft. Es half uns, die Angst zu überwinden.

Aus dieser Erfahrung habe ich etwas Wichtiges gelernt. Ich weiß, dass auch in anderen Ländern der Welt jeden Tag viele Menschen für Freiheit und Menschenwürde kämpfen. Manchmal scheint dieser Kampf sinnlos, weil man einer gewaltigen Macht gegenübersteht. In der gesamten Menschheitsgeschichte zeigt sich jedoch eindeutig, dass man nicht aufgeben sollte. Selbst wenn wir keine Mittel haben, bleiben unsere eigene Meinung und unsere persönliche Haltung weiterbestehen – und das ist letztlich gar nicht so wenig.

Geschichte zwei. Der russische Krieg gegen die Ukraine

Der Zusammenbruch des autoritären Regimes eröffnete der Ukraine eine Chance für die Transformation zur Demokratie. Um die Ukraine auf diesem Weg zu stoppen, entfesselte Russland 2014 den Krieg auf der Krim und in Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk und weitete diesen Krieg im vergangenen Jahr zur umfassenden Invasion aus.

Über all die Jahre hinweg hat Russland absichtlich die Zivilbevölkerung mit dem Ziel angegriffen, unseren Widerstand zu beenden und die Ukraine zu besetzen. Russische Truppen zerstören mit voller Absicht Wohngebäude, Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, bombardieren Evakuierungskorridore, stecken Menschen in Filtrationslager, führen Zwangsdeportationen durch, entführen, foltern und töten in den besetzten Gebieten. Aber es gelingt Russland nicht, das Land zu brechen.

Ein autoritäres Regime betrachtet die Welt nach einem spezifischen Schema. Putin dachte, er könne die Ukraine in drei, vier Tagen besetzen. Denn Russland verfügte über ein viel größeres militärisches Potenzial, eine um ein Vielfaches größere Bevölkerung und es galt als die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Aber die russischen Amtsträger*innen glaubten nicht an die Solidarität und Stärke gewöhnlicher Menschen. Darum haben sie sich verschätzt.

Auch demokratische Länder haben das nicht verstanden. Im Gegensatz zu den gefestigten Demokratien haben Ukrainer*innen nie den Luxus funktionierender staatlicher Institutionen genossen. Das ist der Grund, warum sich seit der großangelegten Invasion in verschiedenen Gesellschaftsbereichen von selbst Kristallisationspunkte herausbildeten, die deren Aufgaben übernahmen.

Internationale Organisationen evakuierten ihr Personal unmittelbar nach der Invasion und darum waren es gewöhnliche Menschen, die die Bevölkerung in der Kampfzone unterstützten; die Menschen aus den zerstörten Städten herausholten, die halfen, unter Artilleriebeschuss zu überleben; die Verschüttete aus den Trümmern von Wohngebäuden bargen; die die Belagerungsringe um Ortschaften durchbrachen, um Hilfsgüter dorthin zu liefern. Gewöhnliche Menschen fingen an, außergewöhnliche Dinge zu tun. Und es zeigte sich mit einem Mal, dass gewöhnliche Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen, stärker sind als die zweitgrößte Armee der Welt.

Diese Erfahrung zeigt eine wichtige Sache. Wir sind es gewohnt, in Kategorien von Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen zu denken. Dennoch haben gewöhnliche Menschen viel mehr Einfluss, als sie glauben. Wenn Millionen von Menschen in verschiedenen Ländern ihre Stimme erheben, kann das die Weltgeschichte schneller verändern als eine Intervention der Vereinten Nationen.

Anstelle einer Zusammenfassung

Unsere Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt geworden. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Eingriffe in die Privatsphäre, eine wachsende Ungleichheit, die Abwertung von Wissen und Expertise und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht in der Vergangenheit zu finden sind. Jahrzehnte der relativen Bequemlichkeit und ein wachsender Wunsch nach einfachen Lösungen haben die Sichtweisen in gefestigten Demokratien verändert. Sie sind sich nicht mehr bewusst, dass es zur Sicherung des Friedens in Europa Anstrengungen bedarf, die dem Ausmaß der bestehenden Bedrohung entsprechen.

Frieden, Fortschritt und Menschenrechte sind unauflösbar miteinander verbunden. Ein Staat, der Journalist*innen tötet, Aktivist*innen inhaftiert oder friedliche Demonstrationen auseinander treibt, stellt nicht nur für seine Bürger*innen eine Bedrohung dar. Ein solcher Staat bedroht die gesamte Region und den Frieden in der Welt insgesamt. Deshalb muss die Welt auf systematische Rechtsverstöße angemessen reagieren. Menschenrechte müssen in der politischen Entscheidungsfindung ebenso wichtig sein wie wirtschaftliche Vorteile oder Sicherheitsfragen. Dieser Ansatz sollte gerade auch für die Außenpolitik gelten.

Es geht nicht allein darum, wie wir Menschen im 21. Jahrhundert Schutz bieten können. Mit seiner Multikulturalität und seiner wechselvollen Geschichte hat Europa das nötige Rüstzeug, um neu zu bestimmen, was Humanismus im Zeitalter eines rasanten technischen Fortschritts bedeutet und dem Begriff Menschlichkeit mehr Tiefe zu geben.

Zivilgesellschaftliche Solidarität kann eine Schlüsselrolle bei der Schaffung eines internationalen Systems der Zusammenarbeit spielen, das gefestigte Demokratien und Staaten auf dem Weg zur Demokratie zusammenführt. Diese Gemeinschaft sollte sich jedoch nicht auf Grundlage einer gemeinsamen Vergangenheit, der wirtschaftlichen Entwicklung oder geographischen Lage definieren, sondern über gemeinsame Werte und Haltungen.

Wir müssen auf die Herausforderungen der Gegenwart reagieren. Die Entschlossenheit zum Handeln ist das, was einer Gesellschaft eine Zukunft verschafft.”

Der Text basiert auf einer Keynote Rede vom 10.10.2024 bei der Revolutionale in Leipzig. Dies ist eine übersetzte Version des englischsprachigen Orginaltext ” I believe much more in Solidarity and People than in Political Leaders and Decisions”. Übersetzt von Felix Pahl, Paraphrasis.